Eine Weihnachtsgeschichte

Ganz anders als geplant

Holger drückte seine Nase gegen die kalte Fensterscheibe. Sein Atem bildete eine Nebelschicht in die er mit dem Zeigefinger ein Gesicht malte. Zwei Punkte für die Augen, einen für die Nase und einen Bogen für den Mund. Es war ein trauriger Mund, mit ganz weit nach unten gezogenen Mundwinkeln. Holger seufzte. Draußen rieselten sanft und stetig weiße, weiche Schneeflocken vom Himmel. Die Schneedecke im Garten glitzerte verführerisch und lud ihn zum Schneemannbauen ein. Vor zwei Stunden noch war er jubelnd ins Zimmer seiner Eltern gerannt, hatte sich auf ihr Bett geworfen und ihnen mitgeteilt, dass es endlich, endlich geschneit hatte. Nachdem Mama und Papa sich den Schlaf aus den Augen gerieben und ein paarmal ausgiebig gegähnt hatten, waren alle ans Fenster getreten und hatten gemeinsam die weiße Pracht bestaunt. „Ja“, hatte Papa sofort festgestellt. „Das ist ganz klar und eindeutig ´Schneemannbau-Schnee´.“ Und sie hatten vereinbart, dass sie gleich nach dem Frühstück im Garten den größten Schneemann aller Zeiten bauen würden. Mama hatte ein wenig in ihrem Karton mit alten Sachen gewühlt. Darin verstaute sie alle möglichen Gegenstände, die eigentlich nicht mehr gebraucht wurden, aber zu gut zum Wegwerfen waren. Und als Holger sich an den Frühstückstisch gesetzt hatte, lagen da neben seinem Teller ein lustiger roter Hut, ein langer, blauer Schal, eine Möhre und viele kleine Stückchen schwarzer Grillkohle.
„Unser Schneemann soll doch auch ordentlich angezogen sein“, hatte Mama gelächelt und Holger musste sich zur Probe unbedingt den Hut aufsetzen und den langen Schal dreimal um seinen Hals wickeln. In diesem Aufzug hatte er sich mit Heißhunger über sein Brötchen hergemacht, und es war ein so lustiger Anblick, dass sie alle herzlich lachen mussten.
Es war Heiligabend und Holger war glücklich. Endlich hatte er zwei Wochen Weihnachtsferien und Papa hatte auch zwei ganze Wochen Urlaub. Er war beruflich viel unterwegs und Holger sah ihn wegen seiner langen Arbeitszeiten manchmal tagelang nur kurz morgens bevor sie in die Schule und zur Arbeit aufbrachen. Deshalb hatte er sich auch so ungemein auf die Ferien gefreut und in seinem Kalender die Tage gezählt, bis es endlich soweit war.
Nach einem warmen Schluck Kaffee und ein paar Bissen von seinem Brötchen, hatte Papa sich voller Vorfreude die Hände gerieben: „Heute haben wir ganz viel vor: Nachdem wir den schönsten Schneemann aller Zeiten gebaut haben…“,
„… und den größten, Papa!“, hatte Holger eingeworfen.
„… Ja, na klar. Also: Den größten und schönsten Schneemann aller Zeiten…“, war Papa zwinkernd darauf eingegangen, „… werden wir Männer uns auf den Weg machen, um den größten und schönsten (noch ein Zwinkerer in Holgers Richtung) Weihnachtsbaum aller Zeiten zu erwerben, während Mama in der Zwischenzeit unser leckeres Festessen für heute Abend vorbereitet. Und wenn wir wiederkommen, schmücken wir alle gemeinsam den Baum und bringen draußen die Lichterketten und den Leuchtstern an. Das ist der Plan. Sind alle damit einverstanden?“
„Jaaaa!“, hatte Holger begeistert gerufen, und Mama hatte genickt und gesagt, dass sie zur Feier des Tages etwas besonders Leckeres kochen werde und überhaupt noch ganz viel vorzubereiten habe.
Doch dann war alles anders gekommen. Holger hatte gerade die Platzdeckchen abgeräumt und Mama das Geschirr in die Spülmaschine sortiert, als das Telefon klingelte. Es war jemand von Papas Arbeit und Papas Gesicht war immer ernster geworden. Er war mit dem Hörer in seinem Arbeitszimmer verschwunden und Holger und Mama hatten sich fragend angeblickt. Nach ein paar Minuten war Papa mit einem traurigen Blick zurück ins Wohnzimmer gekommen.
„Es gibt einen Notfall in der Arbeit. Ich muss leider unbedingt hin, sie brauchen meine Hilfe.“
„Oh, wie schade!“, hatte Mama ausgerufen und Papa in den Arm genommen. „Das ist ja ärgerlich, ausgerechnet heute.“ Papa hatte sie fest gedrückt und gesagt, dass er leider nicht sagen könne, wie lange es dauern werde. Vermutlich sei er erst zum Abendessen wieder daheim.
Holger hatte gar nichts gesagt. Papa hatte auch ihn in die Arme genommen und ihm mit der Hand den Haarschopf zerstrubbelt: „Es tut mir so leid, Holger. Ich habe mich so auf unseren ersten Ferientag gefreut. Wir holen das alles dann morgen nach, ja?“
Holger hatte still genickt und sich schnell weggedreht, damit Papa nicht sehen konnte, dass ihm die Tränen in den Augen standen. Das hätte ja auch nichts geändert- Papa musste zur Arbeit, wenn sie ihn so dringend brauchten.
Er war mit schleppenden Schritten in sein Zimmer gegangen, hatte die Stirn an die Fensterscheibe gelegt und gehört, wie unten die Haustüre schwer ins Schloss fiel.
„Frohe Weihnachten“, brummte Holger nun und guckte mürrisch in den Garten. Er fragte sich, wie Papa sich das wohl vorstellte, alles morgen nachzuholen. Den Weihnachtsbaum erst morgen zu kaufen ging ja überhaupt gar nicht. Das Waldstückchen, in dem man sich selber seinen eigenen kleinen Baum schlagen konnte war nur noch heute zum Verkauf geöffnet- Schließlich war heute Heiligabend.
Mama guckte durch die Tür. „Holger, wo bleibst du denn? Ich dachte wir wollen den schönsten und größten Schneemann aller Zeiten bauen?“
Holger schaute erstaunt auf: „Aber du hast doch noch so viel zu tun für heute Abend? Ich dachte, du hast keine Zeit zum Schneemannbauen.“
„Das lasse ich mir doch um nichts in der Welt entgehen!“ Mama war schon wieder auf dem Weg in den Flur. „Wetten, dass ich die größere Schneekugel rolle?“, rief sie lachend.
„Niemals!“, widersprach Holger und beeilte sich, seine Winterjacke und Stiefel anzuziehen. Dick eingemummelt sahen sie ein paar Minuten später schon selber fast wie Schneemänner aus, als sie in den Garten in die weiße Pracht traten. Das Vogelhäuschen war gut besucht. Die kleinen Spatzen und dicken Amseln freuten sich, dort leckere Körner zu finden. Es hatte aufgehört zu schneien und die Sonne kam hervor und ließ alles leuchten und strahlen. Holger machte einen Schneeball und warf ihn Mama auf den Rücken. „Na, warte“, rief sie und schon begann eine herrliche Schneeballschlacht. Sie lachten und jagten sich über die Wiese, das machte Spaß. Als sie erschöpft in den Schnee fielen, machten sie lustige Schneeengel und guckten für eine Weile still in den blauen Himmel. Das war schön.
Dann ging es los mit dem Schneemannbau. Sie rollten große Kugeln und hatten hinterher ziemliche Schwierigkeiten, die schweren Dinger aufeinander zu stellen. Es war ein Ächzen und Schieben, aber am Ende stand er dann doch mitten auf der Wiese. „Der größte und schönste Schneemann aller Zeiten“, strahlte Holger, nachdem er das letzte Kohlenstück als Knopf an die mittlere Kugel gesteckt hatte.
„Ja, der ist uns wirklich gut gelungen“, freute sich Mama und klopfte sich den Schnee aus der Hose. „Wollen wir uns jetzt auf den Weg machen, um den Weihnachtsbaum… ooooh…!“ Sie konnte den Satz nicht beenden, denn ganz plötzlich war Holgers Mutter auf dem glatt gelaufenen Schnee ins Rutschen gekommen. Sie ruderte mit den Armen, um das Gleichgewicht wiederzufinden, aber einen Moment später fiel sie um und landete hart auf dem Boden.
„Mama!“ Entsetzt lief Holger zu seiner Mutter und hockte sich neben sie. Sie versuchte sich aufzurappeln, aber als sie ihren rechten Arm bewegen wollte, zuckte sie zusammen. „Au!“
„Oh, nein. Was machen wir denn jetzt?“ Holger sprang schnell auf: „Soll ich einen Notarztwagen rufen?“
„Nein, lass uns erstmal versuchen, mich hinzustellen“, sagte Mama und bewegte sich vorsichtig.
Gemeinsam gelang ihnen das Kunststück. Holger führte seine Mutter zurück ins Haus und platzierte sie auf einem Stuhl. „Was nun?“, fragte er.
Mama wollte keinen Notarztwagen rufen, aber da ihre Schulter bei der kleinsten Bewegung schmerzte und auch seltsam verrenkt aussah, musste sie zum Arzt. Zum Glück war die nette Nachbarin von gegenüber zu Hause. Als Holger bei ihr klingelte und erzählte, was passiert war, war Frau Mertens sofort zur Stelle und bereit, Mama in die Notfallklinik zu fahren. Holger holte nach Mamas Anleitung die Versicherungskarte und ihre Papiere herbei und dann fuhren sie los. Von seinem Platz hinten im Auto guckte Holger immer wieder besorgt auf den Beifahrersitz, wo Mama ganz still saß und bei jedem Schlagloch voller Schmerzen das Gesicht verzog. „Vielen Dank für deine Hilfe, Helga“, presste sie nun hervor und guckte ihre Nachbarin dankbar an.
„Das ist doch selbstverständlich, Evy. Ich helfe dir gerne.“
„Aber du bist doch bestimmt auch dabei, alles für die Feiertage vorzubereiten“, warf Mama ein.
„Das läuft mir alles nicht weg. Und der ganze Schnickschnack und das Festessen, Geschmücke und Gebimsele drumherum ist ja sowieso nur ein Extra, um es sich besonders schön zu machen. Die Hauptsache von Weihnachten hat damit doch gar nichts zu tun!“, erklärte Helga mit einem lieben Lächeln.
Holger horchte auf. Nichts damit zu tun? Aber gerade der Weihnachtsbaum, das leckere Essen und die Bescherung vor der Christmette waren doch immer so besonders für ihn. Wie sehr hatte er sich darauf gefreut, mit Papa den Baum zu holen und ihn mit den Eltern zu schmücken. Sie hörten dabei dann immer Weihnachtslieder und naschten Mamas leckere Plätzchen. Und abends gab es Geschenke, die unter dem leuchtenden Weihnachtsbaum ausgepackt wurden. Dann saßen sie hinterher bei Kerzenschein zusammen und gingen in der Nacht gemeinsam in die Kirche. Das mit dem Weihnachtsbaum konnten sie dieses Jahr schonmal knicken. Und Plätzchen konnte Mama mit ihrem kranken Arm auch nicht backen… Konnte es so überhaupt noch ein richtiges Weihnachten werden?

Schnell kamen sie beim Krankenhaus an und bugsierten Mama in die Notaufnahme. Zum Glück war heute kein großer Andrang und es dauerte nicht lange, bis Mamas Name aufgerufen wurde. Sie verschwand in einem Behandlungsraum und Frau Mertens und Holger blieben im Wartezimmer sitzen.
„Na, Holger. Den Tag heute hattest du dir bestimmt ganz anders vorgestellt, nicht wahr?“, fragte Frau Mertens mitfühlend.
Holger nickte. Er wusste nicht, was er sagen sollte.
„Der Mama geht es bestimmt bald wieder besser. Mal sehen, was der Arzt jetzt gleich herausfindet“, meinte sie aufmunternd.
Holger nickte noch einmal und schluckte an dem dicken Kloß, der in seinem Hals saß und einfach nicht verschwinden wollte.
„Erzähl´ doch mal, Holger. Was hast du dir für die Ferien so alles vorgenommen?“
Ihm war jetzt eigentlich gar nicht nach reden. Aber sie war so hilfsbereit gewesen, da sollte er doch zumindest auch so nett sein und auf ihre Frage antworten.
„Hm“, murmelte er. „Gar nichts besonderes…“. Nach einer kleinen Pause fuhr er fort: „Papa hat zwei Wochen Urlaub genommen und wir wollen ganz viel zusammen unternehmen.“
„Das kann ich mir gut vorstellen, dass du dich darauf freust“, nickte sie lächelnd. „Als der Max noch bei uns zu Hause gewohnt hat, hat er die gemeinsame Zeit mit seinem Vater auch immer ganz besonders genossen. Sie haben getischlert und waren zusammen angeln oder haben im Haus irgendwas repariert. Hauptsache gemeinsam. Mich hatte der Max ja jeden Tag, wenn er aus der Schule kam. Aber die Zeit mit dem Papa war immer ganz besonders.“
Holger hatte aufmerksam gelauscht und nickte jetzt verständnisvoll. Ja, den Max konnte er gut verstehen.
Aber auch mit seiner Mutter verbrachte Holger gerne Zeit. Es war so schön, wenn er in den Ferien beide Eltern für sich hatte. Ohne Termine oder Hausaufgaben oder andere zu erledigende Arbeiten. Holger merkte mit einem Mal, dass es ihm eigentlich egal war, was er in den Ferien machen würde. Ihm war nur wichtig, dass er die Zeit mit seinen Eltern verbringen konnte. Und nun hatte Papa an ihrem ersten gemeinsamen Tag doch arbeiten müssen und Mama hatte einen verletzten Arm und ganz viele Schmerzen. Er seufzte leise auf.
Ein Arm legte sich freundlich um seine Schultern und Helga Mertens sagte tröstend: „Du wirst sehen, alles wird wieder gut!“. Er nickte, schon wieder, und sie warteten gemeinsam darauf, dass Mama wieder aus dem Behandlungszimmer kam. Endlich erschien sie, den Arm in einer großen Schlaufe befestigt. Holger rannte schnell zu ihr und umarmte sie vorsichtig.
„Ich hatte mir den Arm ausgekugelt, deshalb hat es auch so weh getan“, erklärte Mama. „Jetzt hat der Arzt ihn mir wieder eingerenkt und es tut kaum noch weh. Aber ich muss ihn für zwei Tage ruhig halten. Ich darf gleich wieder nach Hause, soll mich aber ausruhen. Ich habe Schmerzmittel bekommen.“
„Das ist eine gute Nachricht, dass du gleich wieder heim kannst!“, freute sich Frau Mertens. „Dann wollen wir dich jetzt schnell nach Hause bringen und es dir dort dann so bequem wie nur möglich machen.“ Holger führte Mama vorsichtig zurück zum Auto. Nun sah ihr Gesicht nicht mehr so schmerzverzerrt aus. Wie gut, dass der Arzt ihr geholfen hatte. Sie fuhren nach Hause und während die beiden Frauen ein wenig plauderten, fasste Holger einen Plan.
Zuhause half er Frau Mertens dabei, Mama ein kuscheliges Lager auf dem Sofa herzurichten. Holger holte Decken und Kissen und Mamas Lieblingsbuch herbei und brachte ihr einen selbstgekochten Tee, der nur ein paar Minuten länger gezogen hatte, als es auf der Packung empfohlen war. Mama sagte, der Tee schmecke besonders lecker. Nachdem sie sich ganz herzlich bei Helga Mertens für ihre liebe Hilfe bedankt hatten und die Nachbarin sich mit den Worten: „Wenn ihr noch irgendetwas braucht, könnt ihr euch jederzeit melden!“, verabschiedet hatte, setzte sich Holger auf die Kante des Sofas.
„Ach, Holger“, seufzte Mama. „Es tut mir so leid. Der Tag hat so schön angefangen und nun muss ich hier auf dem Sofa liegen und kann die ganzen Vorbereitungen für heute Abend nicht mehr machen. Dabei wollte ich es dieses Jahr besonders schön für uns herrichten und dich und Papa mal ordentlich verwöhnen.“
Jetzt war Holgers großer Augenblick gekommen. Er holte tief Luft: „Weißt du was, Mama? Dieses Jahr bereite ich alles für Heiligabend her!“
Mama guckte ihn mit großen Augen an. „Du? Ja möchtest du das denn?“
„Natürlich, Mama! Du und Papa sollt es doch auch schön haben. Dieses Jahr werde ich einfach einmal euch verwöhnen und alles festlich herrichten“, sagte Holger mit fester Stimme. Nach einer Pause fügte er hinzu: „Du wirst mir allerdings ein paar Anleitungen geben müssen… „
Mama lächelte glücklich: „Na klar, Schatz.“
Dann machten sie sich gemeinsam daran, zu überlegen, was Holger alles vorzubereiten hatte und kurz darauf schritt er voller Elan zur Tat.
Er holte den vorbereiteten Plätzchenteig aus dem Kühlschrank, rollte kleine, ungefähr gleichgroße Kugeln daraus und buk sie im vorgeheizten Backofen zu leckeren Keksen, nachdem Mama ihn mehrmals darauf hingewiesen hatte, wirklich bitte gaaaanz vorsichtig mit dem heißen Ofen zu sein und unbedingt die Backhandschuhe zu nehmen, wenn er das heiße Blech herausnehmen wollte. Sie einigten sich darauf, dass der in Beize eingelegte Braten auch in zwei Tagen noch sehr lecker werden würde und dass für heute Abend Nudeln in roter Soße bestimmt ein ebenso festliches Mahl ergeben würden. Nach Mamas Anleitung bereitete Holger eine Tomatensoße her und als es köstlich zu duften begann, freute er sich schon auf Papas Gesicht, wenn er nach der Arbeit zur Haustüre hereinkam und so lecker willkommen geheißen wurde.
Holger deckte den Tisch ganz festlich und zu Mamas großer Freude saugte er durch Wohnzimmer und Küche. Da sie ja nun kein Tännchen besorgt hatten, schmückte Holger einfach die Zimmerlinde, die im Wohnzimmer stand, mit den kleinen Holzanhängern und dem selbstgebastelten Weihnachtsschmuck, die sonst jedes Jahr den Weihnachtsbaum zierten.
Dann bat Mama ihn, etwas aus dem unteren Regal ihres Kleiderschrankes zu holen. Es war eine unscheinbare Tüte, die er gut versteckt hinter der Bettwäsche fand. Nachdem er Geschenkpapier, Schere und Tesafilm geholt hatte, packte er gemeinsam mit Mama einen von ihr selbstgestrickten Schal in dem knisternden Papier ein. Der Schal hatte die Farben von Papas Lieblingsfußballverein und war Mamas Weihnachtsgeschenk für ihn.
Als Holger fragte, ob er noch etwas verpacken solle, druckste Mama ein bißchen herum.
„Naja, Schatz. Eigentlich wollte ich heute wenn ihr unterwegs seid, nicht nur Papas sondern auch deine Weihnachtsgeschenke einpacken. Aber das ist doch jetzt irgendwie seltsam, wenn du dir deine Geschenke selber einpacken sollst…“
Das sah Holger ein und er legte die Stirn in Falten und überlegte, wie man das Problem am besten lösen konnte.
„Ich hab´s!“, rief er einen Moment später. „Warte mal einen Augenblick.“ Ehe seine Mutter antworten konnte, rannte er in den Keller und holte einen alten Kartoffelsack herbei, den sie an seinem letzten Geburtstagsfest zum Sackhüpfen genutzt hatten.
„Guck mal, Mama. In diesen Sack legst du mit deiner gesunden Hand alle Geschenke, während ich ihn aufhalte und nicht hingucke. Dann kann ich den Sack unter die Zimmerlinde legen und wir gucken zur Bescherung alle gemeinsam hinein, was wir darin finden. Und außerdem sparen wir so das Geschenkpapier und tun etwas für die Umwelt.“ Mama nickte und lächelte und bald darauf waren die Geschenke ´verpackt´ und der Sack unter dem Bäumchen versteckt.
Nachdem Holger sich vergewissert hatte, dass seine Mutter alles hatte, was sie brauchte, zog er sich warm an und ging in den Garten. Er hatte sich die Lichterketten und den Weihnachtsstern aus dem Keller geholt und machte sich nun daran, sie im Garten aufzuhängen, wie er es eigentlich gemeinsam mit seinem Vater hatte machen wollen. Sie hatten es in den letzten Jahren auch immer zusammen gemacht, daher wusste Holger, wo er die Verlängerungskabel und die Steckdosen für draußen finden konnte. Alleine war es aber doch etwas schwieriger zu bewältigen, als er es sich vorher gedacht hatte. Papa war um einiges größer als Holger und konnte die Lichterketten somit auch höher oben um die Büsche und Bäume wickeln. Aber letztendlich waren alle Ketten verteilt und der Stern an einem Nagel am Fensterbrett des Gartenhäuschens angebracht. Eigentlich hing er sonst immer über der Tür des Gartenhäuschens, Holger war allerdings nicht groß genug, um diesen Haken zu erreichen.
Als Holger zur Probe den Schalter drückte, war er ganz stolz, als er alles leuchten sah.
Es war schon dunkel geworden und Holger ging schnell wieder nach drinnen, um das Abendessen fertig zu machen. Als die Nudeln im Salzwasser kochten, ging er in sein Zimmer und zog sich seine feierlichste Hose und ein sauberes Hemd an. Der Haarschopf wurde noch schnell mit etwas Gel in Form geplättet, obwohl Holger aus Erfahrung wusste, dass das sowieso nur für kurze Zeit so bleiben würde. Seine widerspenstigen Haare trotzten jedem Versuch sie zu bändigen und lockten sich meistens wild um sein Gesicht herum. Aber der gute Gedanke zählt, fand Holger.
So aufgehübscht präsentierte er sich seiner Mutter. Wie ein Fotomodell posierte er vor dem Sofa.
Mama musste lachen. Da hörten sie, wie sich die Haustür öffnete. „Papa ist da!“, rief Holger und wetzte in den Flur, direkt in Papas geöffnete Arme. „Hallo, mein Junge. Jaaa, jetzt bin ich wieder da und jetzt habe ich auch wirklich, endlich zwei Wochen frei.“ Sie drückten sich glücklich und Papa fragte: „Wo ist Mama?“
„Hier!“, kam es aus dem Wohnzimmer, und dann erzählten Mama und Holger, was heute alles passiert war. Papa hörte zu, ohne die beiden zu unterbrechen, nur den Kopf schüttelte er ab und zu, als könne er das alles nicht glauben.
„Mann, ihr macht ja Sachen“, stieß er hervor, als sie geendet hatten. „Da ist man EINmal am Heiligabend unterwegs und dann passiert sowas.“ Er nahm Mama vorsichtig in die Arme und dann struwwelte er Holger durch die so schön plattgegelten Haare. „Toll, dass du dich so großartig um Mama gekümmert hast, Holger. Ich bin richtig stolz auf dich!“
„Ich auch!“, bestätigte Mama, und Holger wurde ein kleines bisschen verlegen.
„Na, das war doch klar“, murmelte er und fügte hinzu: „Ich gucke mal fix nach den Nudeln!“ Schnell wie der Wind war er in der Küche verschwunden und das war gut, denn seine Maccaroni waren tatsächlich schon sehr gut durchgekocht.
Als sie gemeinsam am Tisch saßen, fand Papa: „Ich habe noch nie so lecker gegessen, wie heute Abend!“ und Mama nickte und leckte genießerisch die rote Soße von ihrer Gabel.
Was machte es schon, dass es kein Braten war, der da auf dem Tisch stand. Oder dass die Servietten mit einem Muster aus Ostereiern und Küken versehen waren. Oder dass Holger die Weihnachtstischdecken nicht gefunden hatte und deshalb eine sommerliche Blümchendecke aufgelegt hatte.
Im Garten strahlten die Lichterketten einen Meter über dem Boden und der Stern baumelte golden leuchtend unter dem Fensterbrett des Gartenhäuschens.
Zur Bescherung sangen sie gemeinsam ein paar Weihnachtslieder. Zu Ehren der Zimmerlinde, wurde das Lied „Oh Tannenbaum“ entsprechend abgewandelt.
Holger hatte in dem Kartoffelsack noch seine selbstgebastelten Geschenke für die Eltern versteckt und auch sein Vater hatte ein paar Kleinigkeiten parat, die ebenfalls dazu kamen. Alle drei hatten viel Freude beim Entdecken der lieben Überraschungen, die sie füreinander hatten und es war überhaupt nicht schlimm, dass das meiste davon gar nicht eingepackt worden war.
Spät am Abend machten sie sich auf den Weg in die Kirche. Die Christmette war gut besucht und sie saßen dicht nebeneinander auf der Kirchenbank, Holger zwischen seinen Eltern. Sie sangen Lieder und sie beteten und es roch lecker nach Tannen und brennenden Kerzen.
Der Tag war so ganz anders gewesen, als Holger ihn sich gewünscht hatte. Aber er hatte sehr viel Freude daran gehabt, seiner Mutter zu helfen und für die Eltern alles festlich zu machen. Dass sie sich lieb hatten und füreinander da waren, war das allerwichtigste. Das besondere Drumherum war zwar schön, aber nicht notwendig, um glücklich zu sein. Das hatte er heute verstanden. Er schickte einen lieben Gedanken an Frau Mertens, die ihnen heute so selbstverständlich geholfen hatte. Er würde ihr morgen ein paar selbstgebackene Pätzchen vorbeibringen.
Die Gemeinde begann als letztes Lied: „Stille Nacht, heilige Nacht“ zu singen. Papa beugte sich zu Holger herunter und legte den Arm um seine Schulter, um ihn kurz an sich zu drücken: „Danke, mein Junge! Das hast du heute alles so super gemacht.“ Mama umarmte Holger mit ihrem gesunden Arm von der anderen Seite und drückte ihn ebenfalls fest an sich. „Frohe Weihnachten, mein Schatz“, flüsterte sie ihm ins Ohr. „Danke, dass du heute so toll für mich da warst und mir geholfen hast. Ich habe dich so lieb.“

Da war er wieder, dieser dicke Kloß im Hals. Holger stand da. Ganz still, aber sehr glücklich.
Er hielt mit der linken Hand die seines Vaters und mit der rechten die seiner Mutter und fühlte es ganz deutlich tief in sich drinnen:
                                     „Frohe Weihnachten!“

 

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